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04-10-2023

Das neuste Urteil des Obersten Gerichtshofs zu Haviltex: der Schlüssel zum Erfolg für die Vertragsauslegung?

Im niederländischen Recht spielt bei der Vertragsauslegung der sogenannte Haviltex-Standard eine zentrale Rolle. Die Rolle des auf Rechtsprechung basierenden Haviltex-Standards ist in der niederländischen Rechtsliteratur umstritten. Kritiker behaupten, dass der weite Auslegungsspielraum des Haviltex-Standards Rechtsunsicherheit schafft und zu einer erhöhten Arbeitsbelastung der Rechtsprechung führt. Bei unklarer Auslegung einer Vertragsklausel sind sich Vertragsparteien oft uneinig. Im gewohnheitsrechtlichen System wird die Auslegung eines Vertrags in der Regel anhand seines Wortlauts entschieden, während im niederländischen Zivilrecht die Absicht der Parteien und das, was sie nach den Maßstäben der “Redlichkeit und Billigkeit” (redelijkheid en billijkheid, wohl am besten vergleichbar mit dem deutschen Treu und Glauben) voneinander erwarten können, von größerer Bedeutung ist. Bei der Auslegung von niederländischen Verträgen ist deshalb nicht nur die wörtliche Bedeutung zu berücksichtigen.

In der veröffentlichten Rechtsprechung gab es mehrere Fälle, in denen versucht wurde, den Haviltex-Standard vertraglich auszuschließen. Bislang hat der Oberste Gerichtshof (Hoge Raad) entschieden, dass der Haviltex-Standard nicht einfach außer Acht gelassen werden kann. In einem aktuellen Urteil vom 25. August 2023 schien der Oberste Gerichtshof jedoch zu entscheiden, dass es nun möglich sei, den Haviltex-Standard vertraglich auszuschließen und die Rechtspraxis hat sich hierzu rege geäußert. Auch wir haben uns das Urteil genauer angeschaut . Wir haben festgestellt, dass der Haviltex-Standard zwar in den Nachrichten öfter als ausschließbar dargestellt wurde, das Urteil des Obersten Gerichtshofs diese Ansicht jedoch nicht widerspiegelt. Unsere Erkenntnis erläutern wir im diesem Beitrag.

Haviltex im Detail:
Der Haviltex-Standard umfasst die ergänzende Wirkung der im niederländischen Zivilrecht fest verankerten Grundsätze der Redlichkeit und Billigkeit (Art. 6:248 (1) des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs). Dies bedeutet, dass Texte, die in Vereinbarungen zwischen Parteien enthalten sind, durch Redlichkeit und Billigkeit ergänzt werden können, wenn der erforderliche Kontext fehlt. Infolgedessen werden bei der Auslegung solcher Vereinbarungen zwei Elemente berücksichtigt. Erstens wird der Wortlaut der betreffenden Vereinbarung berücksichtigt. Zweitens wird bei Unklarheiten oder Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung die Absicht der Parteien, mit der sie die Vereinbarung geschlossen haben, als lückenfüllende Maßnahme genutzt.

Dennoch kann der streng wörtlichen Auslegung eines Vertrags große Bedeutung beigemessen werden. Inwiefern dies zutrifft, wird von Fall zu Fall entschieden.  Die wortgetreue Auslegung ist z. B. bei Kaufverträgen in M&A Transaktionen besonders relevant, bei denen die Parteien von Experten unterstützt wurden, bei denen umfangreiche Verhandlungen über die Vertragsbestimmungen stattgefunden haben und der Umfang und die Einzelheiten des Kaufvertrags erheblich sind. Trotz der Tatsache, dass dem Wortlaut viel Bedeutung beigemessen wird, bleibt die ergänzende Wirkung der  Redlichkeit und Billigkeit auch in solchen Fällen bestehen.

Ist es dann möglich, einen anderen Auslegungsmaßstab für einen Vertrag für anwendbar zu erklären? Die juristische Fachliteratur bestätigt dies, allerdings mit der Einschränkung, dass die zusätzlichen Maßstäbe der Redlichkeit und Billigkeit nicht für völlig unanwendbar erklärt werden dürfen.

Das Gerichtsurteil
Das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofs betrifft die Auslegung einer Vergleichsvereinbarung aus dem Jahr 2009, die im Rahmen einer Scheidung geschlossen wurde und in die scheidenden Eheleute vereinbarten, dass der Ehemann bis zum Erreichen des "Rentenalters" der Ehefrau Unterhalt zahlen würde. Entscheidend für den Fall ist eine Bestimmung, die eine grammatikalische Auslegungsnorm in die Vergleichsvereinbarung einführt. Die Bestimmung besagt, dass der wörtliche Wortlaut dieser Vereinbarung, abweichend vom Haviltex-Standard, Vorrang vor den Absichten der Parteien hat. In der Vergleichsvereinbarung ist der 24. Mai 2021 als Renteneintrittsdatum festgelegt. Der Insolvenzverwalter, der Jahre später die Ehefrau unterstützt, verlangt jedoch weitere Unterhaltszahlungen bis zum 25. Mai 2024 (Datum des Inkrafttretens der staatlichen Rente) oder, alternativ, bis zum 25. Mai 2022 (wenn die Ehefrau 65 Jahre alt wird).

Das Berufungsgericht von 's-Hertogenbosch (Gerechtshof) wies die Ansprüche des Involvenzverwalters zurück, da die Unterhaltsbestimmung wörtlich auszulegen sei und keine andere Auslegung zulasse. Das Berufungsgericht stellt fest, dass der Begriff "Rentenalter" zwar theoretisch mehrfach interpretiert werden kann, die Bestimmung dies aber praktisch verbietet. Das Berufungsgericht bestätigte das in der Vertragsbestimmung genannte Datum 24. Mai 2021 aufgrund der streng grammatikalischen Auslegungsmaßnahme der Vereinbarung.

Da der Involvenzverwalter mit der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht einverstanden war, legte dieser beim Obersten Gerichtshof der Niederlande (Hoge Raad) Berufung, Kassation, ein. Der Involvenzverwalter vertrat die Position, dass das Berufungsgericht die Plausibilität bestimmter Rechtsfolgen auch im Falle einer grammatikalischen Auslegung hätte berücksichtigen müssen. Den Kassationsbeschwerden zufolge hat das Gericht die Behauptungen des Involvenzverwalters in seinem Urteil nicht ausreichend berücksichtigt.

Der Oberste Gerichtshof wies die Berufung zurück, da die vom Involvenzverwalter vertretene Position die Tatsache außer Acht lässt, dass die Vergleichsvereinbarung einen eigenen grammatikalischen Auslegungsmaßstab enthält. Der Oberste Gerichtshof bestätigte diesen Standpunkt, da nicht gerügt wurde, dass das Gericht diese Maßnahme nach einem falschen Maßstab oder in unverständlicher Weise ausgelegt hat.

Analyse
Viele Rechtsexperten haben dieses Urteil des Obersten Gerichtshofs zunächst als ein Urteil über die Möglichkeit gelesen, den Haviltex-Standard auszuschließen und eine rein wörtliche Auslegung anzunehmen. Der Oberste Gerichtshof hat sich jedoch aufgrund des Blickwinkels der Berufung des Involvenzverwalters nicht zu dieser Möglichkeit geäußert und aus prozessrechtlichen Gründen auch nicht äußern können. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs bezog sich die Position des Involvenzverwalters nie auf die Gültigkeit der Bestimmung über die "grammatikalische Norm" selbst, sondern lediglich darauf, dass bei der Auslegung des Vertrags nach der grammatikalischen Norm auch die Rechtsfolgen berücksichtigt werden sollten. Die umstrittene Anwendbarkeit des Haviltex-Standards fällt daher nicht in den Anwendungsbereich des Urteils.

Es bleibt abzuwarten, ob der Haviltex-Standard vollständig ausgeschlossen werden kann. Immerhin sichert der Haviltex-Standard die einheitliche Anwendbarkeit von Redlichkeit und Billigkeit, wenngleich diese von Fall zu Fall zu beurteilen ist. Wenn es vertraglich zulässig wäre, den Haviltex-Standard vollständig auszuschließen, würde dies bedeuten, dass auch die zusätzliche Berücksichtigung von Redlichkeit und Billigkeit vollständig ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund erscheint es unrealistisch, dass der Oberste Gerichtshof das ursprüngliche Urteil bestätigt hätte, wenn die Rechtsfragen bezüglich des Ausschlusses des Haviltex-Standards Teil der Kassation gewesen wären. Darüber hinaus ist es ein unausweichlicher Konflikt, dass der Haviltex-Standard auf die Vertragsklausel angewendet wird, die den Haviltex-Standard ausschließt.

Zusammenfassend wird es klar, dass dieses Urteil nicht der Schlüssel zum Erfolg ist, den sich die Befürworter einer Wortlausauslegung erhofft haben. Das letzte Wort in Bezug auf die Anwendbarkeit des Haviltex-Standards und der Vertragsauslegungsklauseln ist also in den Niederlanden noch nicht gesprochen.

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